Pfaueninsel: Roman (German Edition) by Thomas Hettche

Pfaueninsel: Roman (German Edition) by Thomas Hettche

Autor:Thomas Hettche [Hettche, Thomas]
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
ISBN: 9783462308273
Herausgeber: eBook by Kiepenheuer&Witsch
veröffentlicht: 2014-08-20T22:00:00+00:00


»Warum ist die Natur notwendig unvollkommen in ihrer Schönheit?«

»Was?«

»Hegel fragt das. Für ihn gibt es in der Natur keine perfekte Schönheit.«

Gustav ließ sich ins hohe Gras fallen und blinzelte zu ihr herauf. Der Himmel hinter ihr war hypnotische, saugende Bläue. »Das Tier etwa …«

»Ich bin kein Tier«, unterbrach sie ihn und blieb lächelnd vor ihm stehen.

»Das Tier etwa erhält für Hegel sein Fürsichsein nur gegen eine ihm unorganische Natur, welche es verzehrt, verdaut, sich assimiliert, das Äußere in Inneres verwandelt und dadurch erst sein Insichsein wirklich macht.«

»Insichsein.«

»Ja, aber dieses Insichsein des Tiers, sein Sichempfinden, seine Beseeltheit ist nicht das des Menschen. Das Tier besteht nur in einem Leben der Begierde, all seine Glieder dienen nur als Mittel für den einen Zweck der Selbsterhaltung, sie sind an das Leben, das Leben ist an sie gebunden. Wir sehen, wenn wir Tiere anschauen, kein Subjekt, sondern nur die äußeren Umrisse einer Gestalt, durchweg mit Federn, Schuppen, Haaren, Pelz, Stacheln, Schalen überzogen. Und dergleichen Bedeckung, heißt es bei Hegel, gehört zwar dem Animalischen an, doch sie hat die Form des Vegetabilischen.«

»Dein Philosoph meint, Pelz und Stacheln glichen den Blättern?«

»Ja.«

»Was für ein schöner Gedanke!«

»Aber für Hegel liegt darin ein Hauptmanko der tierischen Schönheit. Denn was wir vom Tier sehen, ist niemals seine Seele. Was sich nach außen kehrt und allenthalben erscheint, ist niemals das innere Leben. Es sind Formationen einer niedrigeren Stufe, die nicht von der Seele durchdrungen werden.«

»Und der Mensch?« fragte Marie und legte sich endlich zu ihm. Müde bettete sie ihren Kopf in das kühle, zirpende Gras.

Sofort rollte er herum und wandte sich ihr zu. Ihr Köpfe lagen jetzt ganz dicht beieinander, intim geborgen im hohen Grün, das sie ganz umgab. Kein Geräusch von außen drang hier herab, sie ruhten gestrandet auf der Oberfläche der Insektenwelt, und um sie her krabbelte und knackte es und schabte und raschelte. Gustav lächelte sie an. Und plötzlich streichelte er ihr über die Schläfe. Ihr Herz schlug bis zum Hals, und sie schloß vor Aufregung die Augen. Was war nur geschehen, daß er so zu ihr war? Sie wußte es nicht und wollte nicht daran rühren.

»Und der Mensch?« flüsterte sie wieder.

»Der Mensch?«

»Ja.«

»Der Mensch steht auf einer höheren Stufe. Seine Haut ist nicht mit pflanzenhaft unlebendigen Hüllen verdeckt, das Pulsieren des Blutes scheint an der ganzen Oberfläche, das klopfende Herz der Lebendigkeit ist gleichsam allgegenwärtig. Aber wie sehr nun auch der menschliche Körper im Unterschied zum tierischen seine Lebendigkeit nach außen hin erscheinen läßt, so drückt sich an dieser Oberfläche doch ebensosehr die Bedürftigkeit der Natur aus, in den Einschnitten, Runzeln, Poren, Härchen, Äderchen des menschlichen Körpers.«

»Siehst du denn, wie mein Herz pocht?«

Marie hatte die Augen noch immer geschlossen. Sie spürte, daß Gustavs Hand einen Moment aufhörte, sie zu streicheln.

»Der ungeheure Vorzug, welcher der Erscheinung des menschlichen Körpers nach Hegel zukommt, besteht in der Empfindlichkeit.«

Marie nickte mit geschlossenen Augen. Und dann küßte Gustav sie. Erst küßte er sie sanft auf die Lippen, dann fordernder, leidenschaftlicher. Schüchtern faßte ihre kleine Hand in seinen Nacken. Ihr Kuß wollte nicht enden. Sie atmeten ineinander.



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